20
Von neuer Kraft beseelt, folgte Clarissa dem Weg, den die Augen des vermeintlichen Wolfes in die Dunkelheit gezeichnet hatten. Sie rutschte über den harten Schnee unterhalb des keilförmigen Felsens und hielt sich mit den Händen an hervorstehenden Felsen oder den klobigen Baumstümpfen fest, um auf dem Hang nicht das Gleichgewicht zu verlieren. In dem Schneeregen, der ihr auf der Lichtung besonders schwer zu schaffen machte, kam sie nur langsam voran. Es war ihr beinahe unmöglich, nach Spuren zu suchen.
Wie Dolly es geschafft haben sollte, über diesen Hang zu klettern, wusste Clarissa nicht. Entweder war die Engländerin so verzweifelt, dass sie auch die widrigsten Hindernisse überwand, um Skaguay und den Schmerz, den sie dort erlebt hatte, hinter sich zu lassen, oder sie merkte in ihrer Erregung gar nicht, in welche Gefahr sie sich begab. Selbst Clarissa, die sich inzwischen in der Wildnis zu bewegen wusste, hatte große Schwierigkeiten, auf den Beinen zu bleiben.
Du folgst einem Phantom, schalt sie sich, die gelben Augen hast du dir eingebildet, oder sie gehörten zu einem anderen Wolf, der sich von seinem Rudel entfernt und kein Interesse an dir hatte. Dennoch lief sie weiter, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um nicht abzurutschen und fluchte jedes Mal, wenn sie sich in dem eiskalten Schnee abstützen musste. Obwohl sie ihren Hut tief in die Stirn gezogen hatte, spürte sie den Schneeregen im Gesicht und fühlte, wie die Feuchtigkeit bis auf ihre nackte Haut drang. In Alaska war der Winter noch nicht vorbei, zumindest hier draußen nicht.
Sie hatte schon beinahe den Waldrand erreicht, als sie eine besonders glatte Stelle übersah und wegrutschte, vergeblich nach einem Halt suchte und mit dem Rücken auf den Boden fiel. Sie rutschte ein paar Schritte, bis sie mit den Füßen gegen einen Baumstumpf prallte und sich abstützen konnte. Leise stöhnend blieb sie liegen, erleichtert darüber, dass die immer noch dichte Schneedecke den Sturz gebremst hatte. Sie griff nach ihrem Hut, der ihr während des Sturzes vom Kopf gefallen war, stülpte ihn sich auf den Kopf, stand ächzend auf und wurde auf einen dunklen Stofffetzen im Schnee aufmerksam.
Sie hob ihn auf und betrachtete ihn neugierig, glaubte zu erkennen, dass er von einem Mantel stammte. Ein Mantel, wie ihn Dolly getragen hatte. Jagte sie doch kein Phantom? War Dolly tatsächlich hier gewesen? War sie ebenfalls gestürzt und hatte sich dabei den Mantel aufgerissen?
Sie kniff die Augen gegen den Schneeregen zusammen und suchte die Gegend ab. Außer den Baumstümpfen waren keine dunklen Flecken im Schnee zu erkennen. Wenn sie wirklich gestürzt war, hatte sie sich wieder aufgerafft und war weitergelaufen. »Dolly!«, rief Clarissa in den Wind. »Dolly! Bist du hier irgendwo?«
Sie bekam keine Antwort, sondern hörte nur das Rauschen des Windes in den nahen Bäumen und das Knirschen des Schnees, als sie vorsichtig weiterlief. »Dolly! Wo bist du, Dolly?« Immer wieder rief sie jetzt den Namen der Engländerin, denn wenn sie diesen Weg genommen hatte, und jetzt sprach alles dafür, konnte sie nicht weit sein. Dafür war das Gelände viel zu zerklüftet und unübersichtlich und sie zu unerfahren und aufgebracht, um schon vollkommen außer Reichweite zu sein. Doch Clarissa bekam keine Antwort.
Unter den Bäumen verschnaufte sie einen Augenblick. Sie klopfte sich den Schnee vom Mantel und musste plötzlich lachen, weil sie einen Rock und nicht die Männerhosen trug, die sie sonst anzog, wenn sie in den Wäldern unterwegs war. Alex fand sie auch in ihrer Wildnis-Kleidung attraktiv, das hatte er ihr viele Male beteuert, und schmunzelte eher, wenn sie Rock und Bluse oder ein Kleid wie die Frauen in der Stadt trug. Auch deshalb hatten sie darauf verzichtet, sich nach der Trauung fotografieren zu lassen, beim Anblick von Alex in seinem geliehenen Anzug und ihr in ihrem weißen Brautkleid hätten sie doch nur lachen müssen, so schön das Kleid, das ihre indianische Freundin für sie genäht hatte, auch war. Wie eine Prinzessin hätte sie darin ausgesehen, hatte man ihr gesagt, doch Alex mochte sie in ihrer einfachen Wildnis-Kleidung lieber. »Glaub mir, du siehst auch in Hosen wie eine Prinzessin aus.«
Sie wartete, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel zwischen den Bäumen gewöhnt hatten, und tastete sich vorsichtig durch den Wald. »Dolly! Dolly! Wo bist du, Dolly?«, rief sie alle paar Schritte, blieb immer wieder stehen und wartete auf Antwort. Sie hielt sogar den Atem an, um sie besser hören zu können, falls sie sich tatsächlich meldete. Zum leisen Rauschen des Windes in den Baumkronen, das im Wald noch deutlicher zu hören war, kam jetzt das leise Gurgeln eines Flusses, des Skaguay Rivers, wie sie wusste, der irgendwo in einem fernen Gletschersee entsprang und bei Skaguay in den Ozean mündete.
Und noch ein Laut drang an ihre Ohren: Die verzweifelten Schreie einer Frau, die sich in höchster Gefahr befinden musste. Leise nur und im Rauschen des Windes kaum auszumachen, aber eindeutig die Schreie einer Frau.
»Dolly!«, flüsterte sie entsetzt.
Sie beschleunigte ihre Schritte und rief jetzt laut: »Dolly! Dolly! Ich komme!« Sie achtete nicht mehr auf das Gestrüpp, das ihr im Weg war und ihr während des Laufens ins Gesicht schlug, sondern fluchte lediglich, als sie über einen abgebrochenen Ast stolperte und zu Boden stürzte. Sie rappelte sich sofort wieder auf und rannte weiter in die Richtung, aus der die Schreie kamen. Sie klangen jetzt lauter und bedrohlicher, übertönten sogar das Rauschen des Flusses und brachten sie dazu, noch schneller durch den Wald zu hetzen, bis sie das Ufer erreichte und sich gerade noch rechtzeitig an einem Baum festhalten konnte, um nicht über das Steilufer in die Stromschnellen zu stürzen.
Im selben Augenblick sah sie Dolly, eine dunkle Gestalt, die ungefähr fünfzig Schritte weiter nördlich über dem Fluss hing und sich mit einer Hand an einem Seil und der anderen an der teilweise abgerissenen Planke einer altersschwachen Seilbrücke festhielt. Die baufällige Brücke war in der Mitte durchgebrochen, und Dolly hing am kürzeren Ende, das auf Clarissas Seite vom Ufer baumelte und gefährlich über dem schäumenden Wasser schwankte.
Clarissa verlor keine Zeit. »Halte durch, Dolly!«, rief sie. »Ich bin gleich bei dir!« Sie rannte am Ufer entlang zur Brücke und erkannte sofort, wie bedrohlich die Lage der Engländerin war. Die Planke, an die sie sich mit der rechten Hand klammerte, hing nur noch an einem Nagel, der sich bereits verbogen hatte und jeden Augenblick drohte, aus dem Holz zu brechen, und das Seil, das sie mit der anderen Hand festhielt, löste sich bereits in seine Bestandteile auf. Unter ihr stürzte der Fluss über kantige Felsen, wild und ungestüm und eiskalt von den Gletschern, in denen er entsprang.
»Dolly! Dolly! Was machst du bloß für Sachen?« Clarissa überlegte nur kurz, legte sich dann flach auf die Uferfelsen und streckte die Arme nach Dolly aus. Keine Chance, sie zu erreichen! Sie schob sich weiter nach vorn, hielt sich mit der linken Hand an einem Felsbrocken fest und robbte so weit wie möglich über die Uferböschung hinweg, bis sie beinahe das Gleichgewicht verlor und drohte, ebenfalls nach unten zu fallen. Sie rammte ihre rechte Stiefelspitze in den verharschten Schnee, der auch am Ufer noch teilweise die Felsen und die dunkle Erde bedeckte, und griff mit dem rechten Arm weit nach unten. Doch sie konnte lediglich die Fingerspitzen der stöhnenden Engländerin berühren. Als Clarissa den Halt verlor und nach vorn rutschte, zog sie rasch ihren Arm zurück und brachte sich in Sicherheit. »So geht es nicht«, rief sie.
Dolly war bereits am Ende ihrer Kräfte. »Beeil dich!«, rief sie mit verzerrtem Gesicht. »Ich … Ich kann nicht mehr! Ich … Ich hab keine Kraft mehr!«
Clarissa suchte hektisch nach einem Ausweg. Ein Seil, sie brauchte ein Seil, aber das gab es in dieser Wildnis nicht. Ein abgebrochener Ast, an dem sie sich festhalten konnte. Sie blickte sich suchend um und kam plötzlich auf eine bessere Idee. In Windeseile und ungeachtet des kalten Windes und des Schneeregens schlüpfte sie aus ihrem Mantel. Sie zog an dem Stoff, nickte zufrieden, als sie spürte, wie fest er war, und legte sich erneut auf den Boden. Wieder hielt sie sich mit einer Hand an dem Felsbrocken fest, mit der anderen packte sie den Mantel am rechten Ärmel und ließ ihn nach unten baumeln. »Halt dich am Ärmel fest, Dolly!«, rief sie nach unten. »Ich ziehe dich hoch!«
Dolly hatte noch nicht einmal versucht, nach dem Ärmel zu greifen, als die Planke, an der sie sich mit einer Hand festhielt, mit einem hässlichen Knacken abriss. Sie stieß einen lauten Schrei aus und griff mit der freien Hand nach dem Seil, erreichte dadurch aber nur, dass die Überreste der Brücke ins Schwingen gerieten, und die Gefahr, dass es riss, noch größer wurde.
Entsetzt beobachtete Clarissa, wie Dolly gegen einen Uferfelsen prallte und vor Schmerzen aufschrie, sich aber weiter an das Seil klammerte und stöhnend zur anderen Seite schwang, erneut mit einem Knie gegen einen Felsen stieß, diesmal so fest, dass sie den Halt verlor und eine Hand von dem Seil nehmen musste. Sie stöhnte vor Schreck, versuchte mit der freien Hand, wieder nach dem Seil zu fassen und griff mehrfach ins Leere. Dabei verbrauchte sie viel Kraft und rutschte weiter bedrohlich nach unten. Die Angst, ins tosende Wasser zu fallen, erstickte ihre Schreie und ihr Stöhnen, und verzerrte ihr Gesicht zu einer Maske voller Grauen und Todesangst. »Hilf mir! Hilf mir, Clarissa!«, rief sie so leise und heiser, dass Clarissa sie nicht mehr verstand.
Clarissa erkannte, dass ihr kaum noch Zeit blieb. Das Brückenseil, an dem Dolly hing, begann bereits zu fasern und sich in seine Bestandteile aufzulösen. »Greif nach dem Mantel!«, rief sie ihr zu. »Pack den Ärmel! Erst mit der freien und dann mit der anderen Hand! Schnell! Ich halte dich fest, Dolly!«
»Ich … Ich kann nicht, Clarissa!«
»Natürlich kannst du! Mach schon!«
Das Seil wurde immer dünner und rutschte eine Handbreit nach unten, was Dolly erneut aus dem Gleichgewicht brachte. Sie schwang immer noch hin und her, schaukelte zu stark, um den Mantel fassen zu können. Zweimal versuchte sie es, beide Male mit der freien Hand, und beide Male griff sie weit daneben.
»Beim nächsten Mal klappt es!«, machte Clarissa ihr Mut. Sie versuchte ihre Stimme ruhig klingen zu lassen, wollte Dolly nicht unnötig aufregen und ihr nicht das Gefühl geben, es gäbe nur noch diese eine Chance. Doch genauso war es. Lange würde das Seil nicht mehr halten, ein paar Sekunden vielleicht, dann würde sie nach unten sacken und den Mantel nicht mehr zu fassen bekommen. »Ist keine große Sache, Dolly! Du schaffst es, ich weiß das.«
Dolly konzentrierte sich und wartete, bis sie wieder an dem Mantel vorbeischwang, bekam den Ärmel zuerst mit der freien und dann mit der anderen Hand zu fassen, schrie vor Angst, als der Mantel zu schwingen begann, prallte noch einmal gegen die Felsen und verzog das Gesicht vor Schmerzen.
»Ich hab dich!«, rief Clarissa. »Halt dich gut fest, ich zieh dich hoch!«
Unter Aufbietung aller Kräfte zog sie die Engländerin nach oben. Dolly war noch schwerer, als sie befürchtet hatte, und hing wie ein nasser Sack an dem Seil, weil sie keine Energie mehr hatte, um sich mit den Füßen am Ufer oder an der morschen Brücke abzustützen und beim Aufstieg zu helfen.
Mit beiden Händen zog Clarissa, stieß ihre Stiefel tief in den Schnee, um wenigstens ein bisschen Halt zu haben, und machte doch nur winzige Fortschritte. Ihre Befürchtung, der Mantel könnte reißen, wurde noch größer, als sie beobachtete, wie sich eine Naht löste, und ihre Angst, Dolly könnte von dem feuchten Ärmel abrutschen, wuchs beim Anblick ihres roten Gesichts ins Unermessliche.
Wie sie es dennoch schaffte, sie über die Böschung zu ziehen, vermochte sie später nicht zu sagen. Sie war außer Atem, als Dolly endlich in Sicherheit war, und sie nebeneinander im Schnee lagen, rang minutenlang nach Luft, bis sie endlich wieder ruhig atmen konnte.
Dolly erging es ähnlich, nur brauchte sie noch länger, und als die Anspannung endlich von ihr abfiel und das Adrenalin aus ihren Adern wich, setzten die Schmerzen ein, und sie begann laut zu stöhnen. »Meine Beine!«, jammerte sie. »Ich glaube, da ist was gebrochen!«
Clarissa raffte sich auf und zog sie vorsichtig unter die Bäume, wo sie besser gegen den Schneeregen geschützt waren, zog ihren Mantel wieder an und wischte sich mit dem Ärmel den Schnee und den Regen vom Gesicht. Bei Dolly ging sie behutsamer vor, riss in Ermangelung eines trockenen Tuches einen Streifen von ihrer eigenen Unterwäsche und rieb ihr damit das Gesicht trocken. Vorsichtig schob sie den nassen Rock der Verletzten nach oben, stellte bestürzt fest, dass die Uferfelsen ihre Wollstrümpfe aufgeschlitzt und tiefe Wunden in ihren linken Oberschenkel und das rechte Knie gerissen hatten, und wischte behutsam das Blut und den Schmutz von den Wundrändern.
»Wie sieht es aus?«, fragte Dolly. »Nicht besonders, was?«
Clarissa winkte ab, als würde es sich bei den Verletzungen um Lappalien handeln. »Sind nur Fleischwunden. Ich verbinde dir die Beine, dann geht’s wieder. Aber in Skaguay musst du zum Doc. Vielleicht musst du ein paar Tage im Bett bleiben. Solche Wunden können sich leicht entzünden.«
»Du klingst wie meine Mutter«, erwiderte Dolly grinsend. »Und wenn du mein Vater wärst, würdest du mir jetzt eine ordentliche Tracht Prügel verpassen, und die hätte ich, weiß Gott, auch verdient.« Sie stemmte sich auf die Ellbogen, sank aber sofort wieder zurück, als die Schmerzen stärker wurden. »Ich weiß auch nicht, warum ich weggelaufen bin. War ziemlich idiotisch von mir, was? Wenn du mir nicht geholfen hättest … Ich wäre glatt draufgegangen.«
»Du hast deinen Mann verloren, Dolly. Da kann man schon mal die Nerven verlieren.« Clarissa war bereits dabei, weitere Stoffstreifen von ihrer Unterwäsche abzureißen und Verbände um die verletzten Beine zu wickeln. »Wir haben ihn nach Skaguay gebracht. Soapy Smith will seine Beerdigung bezahlen.«
»Soapy Smith?« Dolly schrie den Namen fast, richtete sich mit einem Ruck auf und sank mit einem Aufschrei wieder zurück. »Der verdammte Verbrecher, der ihn auf dem Gewissen hat? An den Galgen gehört der Dreckskerl!« Wieder gebrauchte sie in ihrer Erregung ein Wort, das nur Engländer benutzten.
Clarissa verstand sie dennoch. »Du kannst ihm nichts beweisen, Dolly. Du weißt doch, wie raffiniert der Kerl vorgeht. Er schiebt den Mord einer Bande in die Schuhe, die es wahrscheinlich gar nicht gibt. Lass ihn ruhig bezahlen!«
»Und dann? Gehen wir wieder zur Tagesordnung über?«
»Er will dir sogar einen Kredit für die Rückfahrt geben.«
Dolly lachte trotz ihrer Schmerzen. »Das könnte ihm so passen. Eher schufte ich mir den Buckel krumm, als von diesem miesen Verbrecher einen Cent anzunehmen. Außerdem hab ich nicht die Absicht, zurückzufahren.«
»Du willst hierbleiben?« Clarissa blickte sie verwundert an.
»Vorausgesetzt, du hilfst mir nach Skaguay zurück.« Dolly lächelte flüchtig und beobachtete zufrieden, wie Clarissa einen der Verbände verknotete. »Ich hab sowieso niemand mehr, weder in San Francisco noch im alten England.«
»Deine Eltern sind tot?« Clarissa musste daran denken, wie sehr sie noch immer unter dem Verlust ihrer Eltern litt. »Meine Eltern sind auch gestorben, vor einigen Jahren schon.«
»Mein Vater lebt vielleicht noch«, erwiderte Dolly. Ihre Stimme nahm einen bitteren Klang an. »Aber er wäre der Allerletzte, zu dem ich gehen würde. Nach dem Tod meiner Mutter fing er an zu trinken und verlor seine Arbeit, und ich musste in einem Lokal arbeiten und sein Dienstmädchen spielen. Ich konnte schon froh sein, wenn er nicht alles Geld, das ich nach Hause brachte, zum Schnapshändler brachte.«
»Dann bist du ihm weggelaufen?«
»Vor einem Jahr schon. Als er anfing, mich zu schlagen, bin ich auf und davon. Keinen Tag länger hätte ich es bei ihm ausgehalten. Aber das ist lange her.«
Clarissa half der Engländerin auf und setzte sie auf einen flachen Felsen. Sie schrie vor Schmerzen auf. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Ich hole dir einen Stock, okay?«
»Es geht schon … Das war nur der Schreck.«
Aber Clarissa wusste es besser und suchte nach einem abgebrochenen Ast, den Dolly als Gehhilfe benutzen konnte. »Hier … Damit müsste es gehen. Nimm ihn in die rechte Hand, und leg den anderen Arm um meine Schulter!«
Sie gehorchte, und sie machten sich gemeinsam auf den Rückweg. Es blieb ihnen keine andere Wahl, als denselben Weg zu benutzen, den sie gekommen waren, und über den vereisten Hang nach oben zu steigen. Schon nach wenigen Schritten merkten sie, wie mühsam der Marsch werden würde.
»So kommen wir nie nach Skaguay«, erkannte Dolly. Sie klang wütend. »Lass mich zurück und hol Hilfe!«
»Und du erfrierst hier inzwischen? Kommt nicht in Frage.«
»Du hast schon genug für mich getan. Du hast mir das Leben gerettet.«
»Und wenn schon«, spielte Clarissa ihre Rettungsaktion herunter, »ich konnte dich ja schlecht in den Fluss fallen lassen.« Sie war erleichtert, die Engländerin ins Leben zurückgeholt zu haben, und war froh, dass sie ihre Krise überwunden zu haben schien. Eine Frau, die so viel durchgemacht hatte wie sie, zerbrach nicht so schnell. Andere Frauen hätten vielleicht den Verstand verloren, wenn sie auf die grausam zugerichtete Leiche ihres Mannes gestoßen wären.
»Und wo hast du Luther getroffen?«, fragte Clarissa, während sie nebeneinander durch den Wald humpelten.
Dolly vergaß ihre Schmerzen und lachte. »Der kam eines Tages in das Lokal geschneit, in dem ich bediente. Bestellte einen Kaffee und rutschte nervös auf seinem Stuhl herum, weil er nicht wusste, wie er mich ansprechen sollte. Das wäre ihm noch nie passiert, hat er mir später gestanden. Also hab ich ihm gesagt, dass ich ihn gern wieder treffen würde. Ich wusste gleich, dass ich ihn heiraten würde, als ich in seine blauen Augen sah, und da spielte es, weiß Gott, keine Rolle, dass er Ire und ich Engländerin war. Ich hätte ihn auch genommen, wenn er ein Chinese gewesen wäre.«
»Und warum wolltet ihr nach Alaska?«
»Warum wohl? Um reich zu werden … Oder um wenigstens ein paar Goldkörner zu finden, die für einen neuen Anfang reichen würden. Außerdem hatte ich Angst, dass mich mein Vater finden würde. Luther hätte ihm sicher die Meinung gesagt, und dann wär’s vielleicht zu einem Unglück gekommen.«
»Und die Tickets?«
»Hat Luther beim Pokern gewonnen. Er war ein heller Bursche und konnte einigermaßen geschickt mit Spielkarten umgehen. Nun ja, manchmal schummelte er auch ein bisschen.«
Für einen kurzen Augenblick erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht, dann wurden ihre Augen wieder feucht, und sie sagte: »Ich vermisse ihn so sehr, den verdammten Kerl!«
»Ich weiß«, erwiderte Clarissa, »ich weiß …«